27. July 2011 René Jalaß

Kommentar: "Oslo. Und wie weiter?"

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Quelle: Rainer Sturm / pixelio.de

Warum das Drama von Oslo und Utoya für uns so wichtig ist und weshalb wir es doch wieder nicht richtig angehen könnten.

Alle Welt redet von Anders B. Breivik. Er soll im Alleingang zuerst eine Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel verursacht und im Anschluss mehrere Menschen auf einer kleinen Insel nahezu hingerichtet haben. Es ist gut, dass wir mittlerweile von ihm reden. Unmittelbar nach dem ersten Vorfall, der Explosion, rangen die Medien und ihre Vertreter um Atem im Wettkampf um die beste terrorwissenschaftliche Einschätzung. Ockhams Prinzip der Sparsamkeit folgend, werteten die selbst- oder fremdernannten TerrorismusexpertInnen die Tat intuitiv als vermeintlich islamistischen Angriff. Man erlag dem psychologischen Phänomen, dass Einzelheiten schneller erkannt werden, als ein System und hangelte sich an Unbekanntem entlang, da an notwendigen Variablen noch nicht viele habhaft waren. Genauer gesagt, gab es nur einen offensichtlichen Hinweis: Die Explosion. Nach jahrelanger, erfolgreicher Medienbeduselung sind wir uns mittlerweile einig, dass eine Explosion, so sie nicht in einem Bergbaugebiet oder am 31.12. eines beliebigen Jahres wahrnehmbar ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von IslamistInnen herbeigeführt sein muss.

“Society is an insane asylum run by the inmates.”

Als sich dann heraus stellte, dass Anders B. Breivik kein Islamist, Dschihadist oder Al Quaida-Terrorist ist, sondern in erster Linie Skandinavier (wobei das Eine das Andere nicht ausschließen muss), hielten wir kurz inne. Ist die Klinge unseres Erklärschwertes etwa doch nicht vollständig durch den Gordischen Knoten gesäbelt? Gibt es vielleicht noch andere Ursachen für Explosionen mit Todesopfern oder Massenhinrichtungen? Langsam dämmerte uns, der Täter quoll fast über vor rechtsgerichteter Ideologie. Man entdeckte Einträge in sozialen Netzwerken im Internet, fand sein Manifest „2083“ und diverse Videos mit Ritterbildern, alten Kreuzen und mystischer Hintergrundmusik, deren Urheber er sein soll, und begaben uns für ganz kurze Zeit auf das gefährliche Glatteis der Verschwörungstheorien, indem wir rechte Ideologien, die Freimaurer, Sekten und Irrsinn in seinem Kopf vereinten. Das war dann Strike Nummer 2: Aus Al Quaida, einer Suppe aus tausenden Verrückten, wurde plötzlich ein Einzeltäter – ohne stichhaltige Variable, die diese Annahme hinreichend stützen würde.

„Three and you´re out!“


Mittlerweile war klar, dass sich Breivik im Dunstkreis rechter Weltanschauungen bewegte und sich zu allem Übel auch noch seine eigene kleine Welt bastelte, die im Grunde – die Lektüre von „2083“ zeigt es – aus einem Konglomerat aus liberalen, konservativen, rechten und ultrarechten Hypothesen geschaffen wurde. Breivik fühlte sich augenscheinlich einige Zeit bei der norwegischen Fortschrittspartei sehr heimisch, hatte wohl aber zu individuelle Ansichten und Ziele, die ihn letztlich dazu brachten, den RechtspopulistInnen adieu zu sagen, um seine eigene Ideologie auszubauen und in ihr aufzugehen. Er stellte sich mit seinem Habitus und seiner Einstellung ins Abseits: Mit seinem Wunsch, den Islam aus Europa zu verbannen, bekommt er massiv Zustimmung. Wenn er dann ins Feld führt, dass notfalls ein europäischer Bürgerkrieg her müsse, wird die Schar der Kopfnicker schon kleiner und als Breivik schließlich feststellt, dass dieser „Bürgerkrieg den Zweiten Weltkrieg wie ein Picknick aussehen“ lasse, schütteln ihm unter Umständen nur noch wenige die Hand. „2083“, vielleicht das „Mein Kampf“ des Anders B. Breivik, ist in sich nicht unbedingt schlüssig. Aber das ist auch überhaupt nicht wichtig. Die individuelle Vorstellung von einer Gesellschaft und der Welt, in der sie existiert, muss nicht zwingend logisch sein, um zu gegebener Zeit eine solche Wirkung zu entfalten. Eine ganz eigene Vorstellung von einer „besseren Welt“, die sonst niemand offensichtlich teilt, ist aber auch keine hinreichende Erklärung für eine Einzeltäterschaft. SektenführerInnen würden auch nicht zu solchen, wenn es nicht in der Natur der Menschen läge, sich für Dinge begeistern zu können.


“Animals have instincts – we´ve taxes.”


Diese Entwicklung zeigt einmal mehr, dass mediale Reflexe und - darauf folgend - die politische Instinktlosigkeit in einer fast kunstvollen Form ausgeprägt sind und den Alltag beherrschen. Wird deviantes Verhalten aufgedeckt oder zeigt es sich ganz von allein, winselt die Gesellschaft nach Heilung und redet sich ein, ihre Freizügigkeit einschränken zu müssen, um in Freiheit leben zu können. Ob Internetstoppschilder, Verdachtsdatenbanken bei abweichendem Verhalten oder die allseits beliebte Vorratsdatenspeicherung. Alles Möchtegern-Präventivschläge zu Gunsten des Lebens in der „Freiheit“. Ein angepflocktes Schaf steht ja auch im Freien und kann nicht mehr wegrennen, um vielleicht auf der Landstraße überfahren zu werden. Nur: Was macht das Schaf, wenn der Wolf kommt, ein Lastwagen über die Weide donnert, es plötzlich einen Hirnschlag erleidet oder von einem Klavier erschlagen wird, das aus einem Flugzeug fiel, weil die Hydraulik der Ladeklappe versagt hat? Wer Lösungen anbietet, ohne die korrekten Umstände zu kennen, macht sich der Scharlatanerie schuldig. Von dem generellen Restrisiko, mit dem eine Gesellschaft, gleich durch welche Art von Kriminalität sie sich bedroht fühlt, auszukommen lernen muss, möchte niemand etwas hören. Es gibt mit völliger Sicherheit keine völlige Sicherheit.


Wo kommen wir ins Spiel?


Den Terrorismus-Gurus der Sender und Zeitungen ist es nicht zu verübeln, dass sie auf die vermeintliche Trumpfkarte setzten. Sie sind ein Opfer ihrer selbst. Und auch die Diskussion um das bestmögliche Schutzkonzept ist nur eine konditionierte Verhaltensweise. Alles folgt dem KISS-Prinzip: „keep it simple and stupid“. Und auch wir brauchen erst einmal eine gewisse Zeit, um uns nüchtern mit dem Thema auseinander zu setzen. Was uns jetzt aber definitiv nicht hilft, ist ein Aufspringen auf die bereits fahrenden Züge. Nur allzu logisch fragen wir uns, wie ein Mensch zu so etwas fähig sein kann. Natürlich waren die Medien dumm, mit ihren Islamophobie gestützten Schnellschüssen. Und selbstverständlich bilden CDU/CSU mit ihren überhasteten Forderungen nach noch mehr „Was auch immer, Hauptsache Freiheit einschränken“ das perfekte Negativ eines hollistischen Verständnisses von Gewaltphänomenen. Aber darauf herum zu hacken, muss nicht zwingend Hauptbestandteil einer Auseinandersetzung mit dem Drama sein. Es wird uns auch nicht beschützen können, wenn TrittbrettfahrerInnen nun zum Handeln motiviert werden. Die Kultivationshypothese als ein Kind der Medienwirkungsforschung bietet da nur eine Möglichkeit zur Annahme weiterer Vorfälle. Das beschränkt sich bei weitem nicht auf die ausführliche Berichterstattung zu Breivik. Ganz im Gegenteil. Seit über 10 Jahren ist unsere Medienlandschaft geprägt von Konstruktionen einer angeblich vom Terror gefährdeten Gesellschaftsstruktur. Mit jeder Ausgabe einer Tageszeitung, in der von kriminellen Personen berichtet wird, steigt die Neigung zur Ausgrenzung von ganzen Personengruppen oder Kulturkreisen. Diese Prostitution der Devianz, ohne die wohl kein Blatt mehr auskommt, bewirkt unsere innere Haltung, die sich nach umhäkeltem Toilettenpapier und Glasuntersetzern sehnt. Natürlich haben die Nachrichtensendungen, Vorabendmagazine und Printmedien den Terror nicht erfunden, aber der Tunnelblick, mit dem die tägliche Berichterstattung sich lediglich auf diese Vorfälle konzentriert, bewirkt – durch die regelmäßige Wiederholung - ein Gefühl der wachsenden Bedrohung, das letztlich die MigrantInnen vorverurteilt, delegitimiert und die Integration hemmt. Oder anders gesagt: Wer von uns dachte insgeheim nicht daran, dass die Explosion in Oslo ein dschihadistisches Attentat war? Das ist auch nicht schlimm, wir sind es ja so gewohnt. Nicht durch die IslamistInnen selbst, sondern durch die Medien.

Was uns als Linke kennzeichnet, ist eben nicht die Fähigkeit, sich blöden, aber natürlichen Einflüssen zu entziehen. Achtung Verallgemeinerung: Auch wir denken bei Terrorismus ans Morgenland, bei Kindesmissbrauch an Pädophile oder bei Griechenland an den Euro – zumindest im ersten Moment. Was uns auszeichnen soll, ist die schnelle Reflektion, gekennzeichnet durch ein schnelles Selbstausschimpfen, wenn man sich bei einem Vorurteil erwischt hat. Das ärgert uns. Und deshalb wollen wir die VerursacherInnen strafen. Wir stellen also die „TerrorexpertInnen“ bloß, die sich im Grunde so verhalten wie wir, aber nicht darüber nachdenken, weil von ihnen erwartet wird, dass sie eine Lösung liefern. Und zwar eine schnelle. Wofür bezahlen wir sie denn sonst? Das erfüllt aber nicht den linken Anspruch, der sich etwas weiter voran trauen sollte, als ein Schwein bei Rückenwind scheißt. Wir könnten uns sachlich dem Thema nähern, bei aller berechtigter Trauer.

Wir könnten uns also fragen: Warum hat ausgerechnet dieser Vorfall dieses mediale Echo produziert? Warum nicht die einen Tag später in China entgleisten Züge? Warum nicht weiter das Atomunglück von Japan? Warum formulieren einige arg drastisch, dass sie es bedenklich finden, dass andere lieber Amy Winehouse nachtrauern? Was macht den Doppelanschlag so bemerkenswert? Die Zahl der Opfer? Die Nähe zu Deutschland? Liegt etwa ein ungewöhnlicher politischer Hintergrund vor? Hat die Inszenierung der Tat eine besondere Qualität? Wie verhält sich die Tat zu den Inhalten von Breiviks Manifest „2083“? Wie verhält sich „2083“ zu „Deutschland schafft sich ab“? Braucht unsere „Medien- und Kulturindustrie“ diese Gewalt sogar? Oder braucht die Gewalt nicht vielmehr die Medien?

Oder wir krümeln weiter an den TerrorexpertInnen herum und bemängeln, wie islamophob sie waren, weil wir das als Linke gut können und uns vielleicht nicht mehr zutrauen und weil wir davon ausgehen, dass genau dies die richtige Taktik ist. Dann streuen wir eben, wie all die anderen BloggerInnen und TeilzeitspezialistInnen den Europol-Jahresbericht 2010 mit ein, der angibt, dass nur drei 294-stel (circa 1%) aller Anschläge in 2010 auf dem Gebiet der EU islamistisch motiviert waren und verurteilen noch einmal schnell die Nazis als Nährboden solcher Anschläge, weil die CDU nicht krass genug ist und zwischen „Konservativ“ und „Nazi“ in Deutschland schlichtweg etwas fehlt. Es ist äußerst wichtig, die Feststellung zu treffen, dass Islamophobie vorherrscht. Es besteht aber auch die Gefahr, in einer Einbahnstraße zu versacken.

Diese schrecklichen Vorfälle bieten möglicherweise die Chance für eine tief greifende und aussichtsreiche Auseinandersetzung mit Themen wie: Freizügigkeit, Toleranz, Demokratie, Fremdenfeindlichkeit, Kriminalität, Gewaltentstehung und -prävention, Medien und Medienkompetenz, Freiheit und vielen mehr. Wir müssen erst lernen, damit umzugehen, wenn Norwegens Ministerpräsident Stoltenberg meint: "Das Norwegen danach wird eine noch tolerantere Gesellschaft sein." Wir müssen es lernen, weil wir es selbst so nicht gewohnt sind. Es geht auch nicht anders, da wir keine realistische Möglichkeit haben werden, die Köpfe von 7 Mrd. Menschen, die die Welt bevölkern, zu kontrollieren. Wir lehnen diese Kontrolle ab. Jeder Versuch, die Freiheit einzuschränken, um Unvorhersehbares zu verhindern, ist Selbstbetrug, populistischer Schwachsinn. Und doch müssen wir so realistisch sein, dass Unmögliche zu versuchen: Uns in der Toleranz des Risikos üben. Wir müssen die richtigen Fragen stellen und für eine offene, nicht von vorschnellen Rückschlüssen geleitete, Diskussion werben.

Aber die Chancen, dass wir es nicht schaffen, stehen auch ziemlich gut. Schließlich sind auch wir nur Menschen. Und in einigen Bereichen lassen auch wir zu schnell die notwendige Objektivität vermissen.

Kategorien: Antifaschismus, Antirassismus, Europapolitik, Frieden, Grund- und Freiheitsrechte, Bundespolitik, Medienpolitik, Soziales, DIE LINKE., Internationales

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