12. October 2010 René Jalaß

Kommentar: Deutsches Sensationsfernsehen, Version 4.0 – Und was kommt danach?

Quelle: Reinhard Grimm / pixelio.de

Quelle: Reinhard Grimm / pixelio.de

Anlass zu diesem Artikel ist der Start eines neuen Serienformats auf RTL II. Unter dem Titel „Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder“ macht der Privatsender neuerdings Jagd auf erwachsene Männer, die sich in diversen Chaträumen mit, als minderjährige Mädchen getarnten, „Lockvögeln“ zu Treffen verabreden.

In der Sendung selbst ist dann folgender Ablauf zu sehen: Es werden „Chatprotokolle“ auszugsweise mit einer jungen, vor Unschuld kreischenden Mädchenstimme und einer erwachsenen, vor Lüsternheit fast platzenden Männerstimme kommentiert. Offensichtlich verabredet sich der Mann mit dem Mädchen zu einem Treffen mit eindeutig erotischem bzw. sexuellem Hintergrund. Das Mädchen, eine Schauspielerin, wird sich, unter Zuhilfenahme ihres Chat-Pseudonyms und teils schüchtern-fragender Antworten, teils klar motivierenden Aufforderungen, zu verabredeter Zeit mit dem Mann in einer Bar, einem Restaurant, irgendwo sonst im Freien oder bei sich daheim treffen. Währenddessen bleiben ein Kamerateam und eine Psychologin im Hintergrund. Wenn die Situation eindeutig brenzlig wird, schreiten diese ein und „stellen“ den Mann auf „frischer Tat“.

Nun möchte ich mit diesem Artikel sicherlich keine Diskussion über Schuld und Unschuld der gezeigten Männer vom Zaun brechen – sofern letztlich nicht auch hier (Laien-)Schauspieler beteiligt sind. Ich möchte mich auch in keiner Weise in die psychopathologischen Zustände aller (!) Beteiligten einmischen – doch es muss gefragt werden: Wie weit darf Sensationsfernsehen reichen? Und wo wird es enden?

RTL II beschreibt das Format so:

„Mit der neuen Sendereihe "Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder" startet ab dem 7. Oktober ein investigatives und gesellschaftlich relevantes Format, das aufrüttelt, schockiert und alle betrifft. RTL II widmet zehn Folgen – Prime Time – in einem noch nie da gewesenem Rahmen dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. „

(…)

"Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder" thematisiert diese ernste Bedrohung, recherchiert, konfrontiert und deckt auf. RTL II möchte auf die Gefahren hinweisen, ein Bewusstsein zum Schutze unserer Kinder schaffen und auf eine gesetzliche Neubewertung dieser Taten hinwirken. Stephanie zu Guttenberg und Julia von Weiler von Innocence in Danger stehen mit ihrer Expertise zur Seite.

(…)

Neben hochrangigen Politikern kommen auch Psychiater, Sexualwissenschaftler und weitere Fachleute zu Wort, die über die Folgen von sexuellem Missbrauch und über die Strategien der Täter sprechen.“

RTL II mustert sich zum „Multi-Tasking-Sender“: Anscheinend arbeiten dort nun neben Journalisten auch Gesellschaftsphilosophen, Aufrüttler, Schockierer, Betroffenenexperten und eine eigene Staatsanwaltschaft mit Richterbank. Ohne Zweifel liegt das Thema, neben der Integrationsdebatte und erneuerbaren Energien, unter den TOP10 des „talk about“ unseres politischen Alltagsgeschäfts. Doch ebenso zweifelsohne übertrifft das jetzige Format meine gutgläubigen Vorstellungen über den rechtsstaatlichen Rahmen des Möglichen innerhalb eines Fernsehabends.

Auffällig ist die Darstellung des Bekanntschaftsgrads der Hauptakteure. Dieser ist am Anfang gleich Null. Dabei stellt RTL II aber ausdrücklich fest:

„90% aller Fälle von sexuellem Missbrauch finden innerhalb des nahen sozialen Umfelds von Kindern und Jugendlichen statt (Nachbarschaft, Schule, Kirche, Familie, Freunde).“

Darin ist sich auch die Fachwelt einig, wobei die o.g. Zahl keine allgemeine Reflektion genießt. Die Sendung würde sicherlich nicht „Tatort Internet“ heißen, wäre es eine Darstellung des nachbarschaftlichen Gefüges. Doch der gut platzierte Hinweis auf das soziale Nahfeld widerspricht dem Inhalt.

Dass sich die Ministergattin Stephanie zu Guttenberg und der ehemalige Innensenator und Polizeipräsident Hamburgs, Udo Nagel in diese Sendung einmischen, lässt das kritische Zuschauerherz fast aus dem Takt geraten. Ein TV-Sender maßt sich an, die erzieherischen Aufgaben und rechtsstaatliche Verantwortungen zu übernehmen und die politische upper-class parliert offen darin herum. Von Aufklärung ist neben den Schockeffekten, dem Dauerverpixeln und Stimmeverfremden der „Täter“ nichts zu erkennen. Doch weder die wahre Identität des Mannes ist wichtig, noch seine Stimme, sein beruflicher Hintergrund, der Tatort oder die im Sendungsvorspann gezeigten Zeitungsschnipsel, mit Titeln wie: „Mörder sucht Opfer im Chat“. Viel wichtiger: Wir stellen den Täter und drängen ihn zu Aussagen, die ihn Kopf und Kragen kosten. Wer auch immer er ist – wir kennen ja nur seinen schattigen Umriss.

Zu sehen bekommen wir alle Attribute: Doof, Dreist, Gefährlich, Lüstern.

Quo vadis, Tatort Fernsehen?

Und was sollen wir damit? Wir alle sollen aufgerüttelt werden. Wir sollen die Politik aufrufen, ein Gesetz zu erlassen, dass bereits die Anbahnung von Chat-Gesprächen mit Minderjährigen unter Strafe stellt. Unsinn? In den USA gab es dieses Format bereits zwischen 2004 und 2007 unter dem Titel „To catch a predator“ (Ein Raubtier fangen). Und es ist damit sogar in die us-amerikanische Parlamentsdiskussion gewandert. Damit bedient RTL II eine vermeintliche Lynchgier in uns Menschen. Keine Präventionsvorschläge, keine Hinweise, wie Kinder nicht erst zu Opfern werden oder wie Eltern eine bessere Kontrollierbarkeit der Onlineaktivitäten ihrer Kinder erreichen. Stattdessen stürzen wir uns nun auf die Täter. Wir stellen sie bloß. In der nächsten Staffel können wir vielleicht über eine Telefon- oder SMS-Abstimmung die Art der Todesfolter wählen. Nehmen wir doch die 1 für „Steine“, die 2 für „Giftschlangen“ und die 3 vielleicht für glühende Eisennägel. Unwahrscheinlich?

Version 4.0 macht´s möglich.

"Das ist Moralpanik ohne Aussicht auf konstruktive Lösungsansätze", so der Kriminologe Christian Wickert, vom Institut für kriminologische Sozialforschung in Hamburg.

Wir erinnern uns: Zuerst gab´s Sendungen, in denen Menschen ihre Wohnungen neu eingerichtet bekamen. Dann folgten Sendungen, in denen Menschen anderen Menschen, denen es sehr schlecht geht, neue Wohnungseinrichtungen zu Gute kommen lassen. Jetzt haben wir Sendeformate erreicht, die in Messiewohnungen eindringen, sie in vollumfänglicher Güte dem Fernsehpublikum servieren und von heute auf morgen eine Komplettrestaurierung vornehmen. Was also ist an dem Gedanken unwahrscheinlich, dass RTL II mit der jetzigen Sendung nur am Anfang steht? Und was ist, bei allem Unmut über pädophile Neigungen, mit dem rechtsstaatlichen Gedanken an eine Unschuldsvermutung, die erst Kraft eines Urteils widerlegt wird?


Aber was weiß ich als Linker schon von Rechtsstaatlichkeit?

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Update, 12.10.2010:

Es kommt, wie es einfach nur kommen musste:

"(...) Gestern, noch während, bzw. kurz nach der Ausstrahlung der zweiten Folge der 10-teiligen Reihe ist es dann passiert. Bei Twitter und in einschlägigen Foren wurden erste Hinweise auf die Identität eines der Beschuldigten gepostet. Bis zum Klarnamen inkl. Postanschrift waren es zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Mausklicks. Inzwischen liefert der passende Suchbegriff das entsprechende Topergebnis bei Google (...)"

So zu lesen auf netzpolitik.org.

 

Kategorien: Kultur

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