06. October 2010 Stefan Wandrey / Paris

Her mit dem schönen Leben!

Quelle: Roberta M. / pixelio.de

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Stefan Wandrey fügt der aktuellen Berichterstattung über die französische Rentenreform – und die Rente im Allgemeinen –noch einen Blickwinkel und einige Argumente hinzu.

Paris, 23. September 2010. Es ist Streiktag. Der Nahverkehr um Paris ist erlahmt, viele Haltestellen des RER A und RER B, der meistgenutzten S-Bahn-Linien Europas, sind geschlossen. Die wenigen Busse sind überfüllt und verspätet. Einige haben sich heute entschieden, das Haus nicht zu verlassen.

Für viele aber geht es genau darum: heute Präsenz zu zeigen, heute nicht locker zu lassen, heute – so kurz nach der Abstimmung im Parlament – zu zeigen, dass man sich nicht alles bieten lässt. Wir funktionieren für das System. Aber nur solange das System auch für uns funktioniert.

Die Place de la Bastille, an der vor zweihundertzwanzig Jahren die von Adel und König unterjochten Bürger das Symbol ihrer Unterdrückung, das Bastille-Gefängnis, stürmten und die Französische Revolution in Gang setzten, ist heute Ausgangspunkt für die Demonstration. Es gruppieren sich Gewerkschaften, Parteien und Organisationen mit ihren Sympathisanten, es gibt Musik, es gibt Gegrilltes, bedruckte Girlanden und Luftballons, Fahnen wehen im Wind, es gibt Flyer und bunte Aufkleber. Ein Volksfest, der Souverän Volk feiert sich selbst.

Demonstrationen kennt man in Paris, auch wenn die Zahl neue Höhen erreicht hat: 3 Millionen werden heute in ganz Frankreich erwartet. Ausschreitungen gibt es keine, selbst die Anwohner, denen der Lärm in den Ohren und die Aufkleber an den Hauswänden noch einige Tage erhalten bleiben dürften, zeigen Verständnis und Zustimmung. Es herrscht allgemeine Übereinkunft: Dass es diese Demo braucht, dass es die Präsenz der Straße braucht, dass es so nicht weitergehen kann.

In Deutschland sieht man die Streikmanier der französischen Nachbarn mit Befremdung. In den wenigen Artikeln der großen Medien findet man wenig Fakten und Zahlen, dafür viel Argwohn. „Was gibt es da eigentlich zu streiken?“, meint allen voran die BILD, aber auch die ZEIT erklärt Verwunderung über das Beharren auf dem „Luxus“, „dabei ist das Rentensystem reformbedürftig.“, so die Süddeutsche. Laut der FAZ ist es das „Ende des Rentenluxus“, die Financial Times Deutschland erinnert schon mal an das Richtungspapier aus Brüssel, das die Rente mit 70 in Europa anstrebt.

Im deutschen Meinungsapparat ist man sich einig: hier versammeln sich Privilegienverteidiger, Ewig-Gestrige, Sparen steht auf der Tagesordnung. Ähnlich sehen es viele Deutsche, sind über den Kampfesgeist der Franzosen verwundert.

Dabei haben die Gegner der Reform in Umfragen eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit. Auf der Straße sind Rentner und Beamte, aber auch immer mehr Angestellte und Studenten. Alles nur Privilegienverteidiger? Und woher kommt diese, in Deutschen Augen ständige, Streiklust?

Ein Erklärungsversuch. Anders als in Deutschland, wo man das soziale Netz in großen Teilen Bismarck und den Vätern des Grundgesetzes verdankt und daher weithin als gegeben hinnimmt – oder gar als Geschenk oder Privileg des Vater Staat – ist in Frankreich im Bewusstsein geblieben, dass die sozialen Errungenschaften über Generationen den Arbeitgebern und Regierungen abgerungen werden mussten, damit bei steigender Produktivität und Reichtum der Wirtschaft auch der Lebensstandard der Arbeitnehmer, der „kleinen Leute“ steigt.

Ob die 40- und später 35-Stunden Woche (1936, 1998), 1958 die Arbeitslosenversicherung mit ab 1973 einem Jahr lohnabhängigem Arbeitslosengeld, 1950 der Mindestlohn und dessen Kopplung an die Inflation 1970, ob die bezahlte Urlaubszeit von zwei Wochen (1936), drei, vier und schließlich fünf Wochen (1956, 1969, 1982) oder eben die Rente, 1910 ab 65 Jahre eingeführt und 1981 unter dem letzten sozialdemokratischen Präsidenten bis heute auf 60 Jahre herabgesetzt – alle diese Maßnahmen waren nur dank des stetigen Wirtschaftswachstums möglich. Sie ermöglichten den Franzosen einen steigenden Lebensstandard und die höchste europäische Lebenserwartung.

Und sie mussten alle – ausnahmslos – von der Straße gefordert und in massiven Streiks erkämpft werden.

Die Franzosen wissen: von ihrer Regierung, ob konservativ oder sozialdemokratisch, bekommen sie nichts geschenkt, was sie nicht fordern. Daher herrscht in Frankreich eine Kampfbereitschaft unter den Alten wie unter den Jungen.

Die Rentenreform

Sie haben einiges erreicht. Und doch wird bei der Aufzählung deutlich, dass die letzten Errungenschaften – mit Ausnahme der 35-Stunden-Woche, die jedoch für viele eine reelle 39-Stunden Woche ist und von einer Liberalisierung der Arbeitszeit begleitet wurde – bereits in die dreißig Jahre vergangene Ära Mitterrand fallen. Seither ist die Wirtschaft weiter gut gewachsen, Jahr für Jahr, aber für die Arbeitnehmer war kaum mehr etwas drin.

Grund genug für Frankreichs große Gewerkschaften, eine volle Rente mit 60 oder nach 37,5 Jahren Erwerbstätigkeit zu fordern. Schon heute gilt die Rente mit 60 schließlich nur für diejenigen, die 40 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt, also seit dem 20. Geburtstag ohne Unterbrechung sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. Nicht nur für Frauen quasi ein Ding der Unmöglichkeit. Alle anderen bekommen 10% Abzüge pro fehlendes Jahr – oder sie arbeiten bis zum „normalen Renteneintrittsalter“, das schon heute bei 65 Jahren liegt.

Doch die Regierung Sarkozy weißt nicht nur das zurück, sie geht ans Eingemachte: Rente frühestens ab 62, und auch dann nur für diejenigen, die 41 Jahre Erwerbstätigkeit vorweisen können. Für alle anderen, Frauen mit Kindern (denn Mutterschaftszeit wird nicht anerkannt), Studierten oder den immer zahlreicheren Arbeitern mit durch Arbeitslosigkeit zerrissenem Arbeitsleben gilt dann 67. Zunächst. Nach Jahren des Stillstandes nun also Rückschritt? Wie kann das sein?

Die Regierungsideologie

Ihre Begründung findet die Regierung dabei im Handbuch des neoliberalen Wirtschaftens, das seit den Achtzigern von Margret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA erarbeitet und im Consensus von Washington 1990 festgehalten wurde. Diese Ideologie begegnet uns regelmäßig in zwei Formen:

1. Der hyperkapitalistischen Ideologie des Mangels und der Konkurrenz.

Im Grunde heißt es immer wieder, dass der Staat pleite sei und das Geld für einen funktionierenden Sozialstaat fehle sowie die Abgaben der Unternehmen zu hoch seien, und eine verpasste Abgabensenkung zur Abwanderung der großen Industrien ins billigere Ausland führen würde.

Was auf den ersten Blick vielleicht plausibel klingt, wirft doch die Frage auf: Wo kommt denn dieser Mangel her? Lernt man nicht in jedem Wirtschaftskurs zuallererst, dass der Grund allen Wirtschaftens die Überwindung des Mangels ist? Seit tausenden von Jahren arbeiten und wirtschaften wir, um den Mangel zu besiegen – und fahren dabei jedes einzelne Jahr, außer zwei Unterbrechungen 1929 und 2008, ein Wirtschaftswachstum ein.

Und haben wir uns nicht 1949 (beziehungsweise 1990) eben deshalb für einen – sozial abgeschwächten – Kapitalismus entschieden, weil er, trotz aller Ungleichheit und Ungerechtigkeit sowie Zerstörungskraft in seinen Wirtschaftskrisen, die produktivste Wirtschaftsform ist? Weil er am schnellsten wächst und Reichtum schafft und daher trotz der Ungleichheit selbst den Schwachen noch Vorteile bietet?

Und wenn wir uns einmal umblicken, ist Mangel auch bei genauem Hinsehen kaum anzutreffen: wir haben volle Supermärkte, ausreichend Wohnungen, produzieren zu viel Strom, zu viel Trinkwasser und jedes Jahr fließen Milliarden in den Finanzmarkt, weil das Geld anderweitig nicht mehr gewinnbringend eingesetzt werden kann.

Es scheint also, dass die Wirtschaft den Mangel auf weiten Teilen besiegt hat, einen Überschuss produziert, aber der Staat, die Allgemeinheit, die Schwachen, nicht ihren Teil davon abbekommen. Haben wir uns bei der Wahl des Wirtschaftsmodells für einen Kapitalismus mit sozialen Vorteilen für alle entschieden, heißt das aber, dass in dem Moment, wo die reiche Elite diesen Vorteil abschafft, der Vertrag gebrochen und die Wahl neu ausgeschrieben ist.

Dazu meinen Sarkozy und Co., dass man wirtschaftliche Umverteilungen national nicht mehr lösen kann, da sonst die Unternehmen einfach abwandern.

Es gibt jedoch einiges, was dafür spricht, dass sehr wohl noch nationale Gestaltungsmöglichkeit vorhanden ist: etwa die Finanzmarktsteuer, die in London auf in- wie ausländische Transaktionen erhoben wird, ohne dass die Londoner Börse boykottiert würde; der Mindestlohn in Frankreich, nach dem es immer noch französische Friseure, Dachdecker und Reinigungskräfte gibt; sowie die hohen Steuern und Sozialabgaben in Nordeuropa, die bisher auch noch zu keiner Massenflucht nach Estland geführt haben.

Fakt ist, dass über vier Fünftel unserer Wirtschaftskonkurrenz innereuropäisch ist, und hier logischerweise hauptsächlich die stärksten Staaten konkurrieren. Diese Konkurrenz ist hausgemacht – zunächst durch wirtschaftsliberale Abkommen wie der Lissabon-Vertrag, und schließlich durch einen Sozialdumping-Effekt: wenn Merkel die Unternehmen entlastet, sieht sich Sarkozy unter Druck, er wird auch die Unternehmer entlasten, was die Spanier und Briten zu einer Abgabensenkung bewegt – und dann geht das Spiel wieder von vorn los.

Wenn man aber in die andere Richtung, mehr Teilhabe, mehr Gleichheit, gehen wöllte, ginge das auch – gerade wenn diese Initiative aus den EU-Anführern Deutschland und Frankreich käme. Man müsste nur wollen. Offensichtlich will man aber nicht.

2. Die individualistisch-egozentrische Ideologie des Verdienst.

Der zweite Pfeiler der neoliberalen Ideologie ist der, dass Menschen – besonders die in höheren Einkommensschichten – die Posten und Gehälter, die sie bekommen, „verdienen“. Und dass Steuern auf diesen Verdienst eine Zwangsabgabe an den gefräßigen Staat und Geschenke zum Durchfüttern der Unterschicht sind – die in derselben Logik ihre Situation ebenfalls „verdient“.

Dabei ist es jedoch offensichtlich, dass die Gesellschaft gut bezahlte Posten subventioniert. Ein Geschäftsleiter produziert nicht in gleichem Maße mehr als ein Fabrikarbeiter, Logistiker und Verkäufer unter ihm, er bekommt einfach mehr.

Nun ist Lohngerechtigkeit ein schwieriges Feld und höhere Löhne mitunter von Nutzen. In jedem Fall sollte aber ein „Leistungsträger“ nicht vergessen, dass sein gut entlohnter Posten eben nur ein Produkt der Gesellschaft ist, das viele kleinere Leistungsträger unter ihm miterarbeiten.

Denn ein Chef ist eben kein Chef ohne seine Angestellten, Sekretäre, Putzkräfte. Und ein Reicher hat ohne Lehrer und Ärzte, aber auch Techniker, Bäcker, Supermarktaushilfen und Reinigungskräfte auch nichts von seinem Reichtum.

Deswegen war hier der Vertrag, dass der „Leistungsträger“ einen Teil seines Verdienstes an die Allgemeinheit zurückgibt, damit das System zu beiderseitigem Nutzen funktioniert.

Wenn er nun aber maßlose Steuersenkungen fordert – und bekommt – muss er sich im Klaren sein, dass er einseitig den Gesellschaftsvertrag aufkündigt, auf dem er selbst steht – und umso tiefer fallen kann.

Die Zahlen lügen nicht

Und eben das ist geschehen: Wirtschaft und Einkommensspitze haben auch in Frankreich den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, der soziale Marktwirtschaft heißt, und das mithilfe der Regierungen der letzten zwanzig Jahre.

Gerne erzählt Sarkozy nun das erste Kapitel des Rentenbuches, und zwar dass die Demographie bedeutet, dass mit immer mehr Rentnern und immer längeren Renten die Ausgaben steigen. So kommen 1990 auf zwei Rentner drei Arbeiter, aber 2040 drei Rentner auf zwei Arbeiter. So weit, so richtig.

Doch schon die nächste Seite lesen sie uns nicht mehr vor, wo die Produktivität erklärt wird. Das jährliche Wirtschaftswachstum spült schließlich, wenn die Steuern und Abgaben nicht stetig gesenkt werden, automatisch auch Jahr für Jahr mehr Geld in die Staatskasse.

Aber von vorn. Nach demselben öffentlichen Statistikinstitut INSEE, das den Demographieschock prognostiziert, produzieren zwei Arbeiter 2040 so viel wie vier Arbeiter 1990, und plötzlich ist das Verhältnis viel weniger dramatisch. In Zahlen bedeutet das folgendes: Heute hat Frankreich Staatseinnahmen von ca. 1000 Mrd. Euro. Die Renten kosten 26%, also 260 Mrd. Euro. 2040 kosten die Renten nun 720 Mrd. Euro, das sind dann 36%, denn die Staatseinnahmen werden sich im Zuge des Wirtschaftswachstums verdoppeln. Das ist für die Renten erst einmal eine Kostenerhöhung, nominell wie prozentual.

Dennoch blieben der Regierung 2000 nach den Renten noch 740 Mrd. Euro aus dem Haushalt zur Verfügung, 2040 werden es immerhin 1280 Mrd. Euro sein. Es wird also nur ein Teil des zusätzlichen Kuchens gebraucht, unter dem Strich bleibt dank Produktivitätswachstum sogar mehr übrig als heute. Damit bleiben die Renten eine rein politische Prioritätenentscheidung.

Gern wird auch das bestehende Defizit der Rentenkasse ins Feld geführt, um die Unbezahlbarkeit der Renten zu belegen. So fehlen der Rentenkasse heute 32 Mrd. Euro, die Regierung rechnet mit 70 Mia. Euro bis 2030 und 100 Mrd. Euro bis 2050, wenn nichts unternommen wird.

Dabei hat die Regierung ihre Richtungsentscheidung längst getroffen und einiges unternommen:

  • Sie hat den Unternehmern in mehreren Reformen eine Abgabenerleichterung von 30 Milliarden Euro jährlich zugestanden – genau auf der Seite der Sozialabgaben
  • Weitere 75 Milliarden ergeben sich jährlich aus den Unternehmens-Steuersenkungen seit 2000
  • Sie hat die Steuern für die Reichen und Gutverdiener seit 2000 in einem Umfang von 30 Milliarden Euro jährlich gesenkt

Wir sprechen von über 100 Milliarden Euro jährlich, die der Staat mehr einnehmen würde, wenn er nur die Steuer- und Abgabensituation auf dem Niveau von 2000 belassen hätte. Dorthin ist seither das jährliche Wirtschaftswachstum geflossen.

Politik setzt auf mehr Ungleicheit

So wird deutlich: Die Rente ist kostspielig und wird teurer. Doch sie ist ohne übermenschliche Anstrengungen bezahlbar. Die Stellschrauben zu mehr Lebensstandard und sicherem Sozialsystem, wie es im Vertrag der französischen Verfassung unter „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ heißt, existieren, die Regierung muss nur den Willen zeigen, Gleichheit über Lobbyismus zu stellen.

Dieser Wille fehlt – und damit ist der Gesellschaftsvertrag gekündigt.

Wir als Bürger müssen uns nun entscheiden, was wir uns in Zukunft bezahlen wollen: Die privaten Gewinne einer Elite aus Bankern, Krankenversicherungsmanagern, Atomkraftwerksaktionären, Hoteliers und Rentenversicherungsverkäufern – und Politikern?

Oder ein gerechtes, gleiches, sicheres Sozialsystem, das Allen Teilhabe bietet und somit als einziges auf Dauer die Gesellschaft und damit die Demokratie zusammenhalten kann.

Einer Umfrage zufolge sind wir die erste der Nachkriegsgenerationen, die glaubt, unsere Nachfahren werden es einmal schwieriger haben als wir, werden unseren Lebensstandard in den meisten Fällen kaum mehr erreichen.

Aber warum denn eigentlich?

Warum sollten wir uns trotz jährlichem Wachstum und Wirtschaftsreichtum unseren Lebensstandard wegnehmen lassen? Die Franzosen haben die Wahl getroffen: am 2. Oktober heißt es wieder:

„Her mit dem schönen Leben!“

 

Weitere Bilder und Informationen finden Sie auf der Themenseite "Internationales".

 

Kategorien: Soziales, Europapolitik

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