22. October 2010 Stefan Wandrey / Paris

Dans grève, il y a rêve

Quelle: Roberta M. / pixelio.de

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Nicolas Sarkozy hält unbeirrt an der Rentenreform fest. Doch die soziale Protestbewegung reißt nicht ab. Neue Entwicklungen und Einsichten aus Frankreich von Stefan Wandrey

Am 19. Oktober sind nun bereits zum vierten Mal in diesem Monat die Franzosen auf die Straße gegangen. Die soziale Bewegung gegen die Rentenreform der Regierung Sarkozy begann am 27.Mai diesen Jahres mit knapp einer Million Protestanten und erfreut sich seither wachsenden Zuspruchs: Auch diesen Dienstag sind wieder, wie vor einer Woche, knapp 3,5 Millionen Menschen in Protestzügen in ganz Frankreich unterwegs gewesen.

Dazu kommt der anhaltende Streik, der seit dem Aktionstag am 12. Oktober branchenübergreifend vom Zugpersonal der SNCF, dem Nahverkehr in Paris und Marseille, den Fähren nach Korsika, dem Hafenpersonal in mehreren großen Häfen, den Arbeitern des Öllieferanten Total, bei den Fluglotsen, Kraftfahrern, Elektrizitätswerken und dem staatlichen Fernsehen bis zu Gymnasien und Universitäten stattfindet und regelmäßig verlängert wird.

Dies bedeutet nicht, dass die betroffenen Bereiche gänzlich in den Ausstand getreten sind. Entgegen mitunter wilden Bildern in den Nachrichten, wird das tägliche Leben des Großteils der Bevölkerung kaum gestört. Bisher. Das ist auch von den verantwortlichen Gewerkschaften so gewollt, die eher zu vereinzelten Warnaktionen aufrufen, als das gesamte öffentliche Leben zu blockieren.

Frankreich liegt nicht lahm, doch die Mobilisation ist da. Das Klima ist gespannt. Gezielte Aktionen zeigen Wirkung. Züge und Flüge fallen aus, jede dritte Tankstelle kann nur noch begrenzt oder gar kein Benzin mehr verkaufen.

Im Fernsehen wird der Zoom gern auf wartende Nahverkehrsreisende und an Tankstellen in Warteschlangen stehende Autofahrer gerichtet. Einige äußern sich empört, man „nehme sie in Geiselhaft“. Schnitt. Der Premierminister François Fillon erklärt die Streikenden für „unverantwortlich“. Wie Sarkozy schwört er auf das baldige Ende der Proteste. Für ihn ist jede Demonstration die letzte.

Wer sich über die Protestbewegung nur über Zeitungen informiert, mag dann jedoch verwundert sein, wenn die Bewegung von einer Demo zur nächsten nicht abflaut, sondern sogar noch wächst. Über 70% der Franzosen unterstützen mittlerweile die Demonstrationen. Zwei Drittel finden die sture Haltung der Regierung weitaus inakzeptabler als das Verhalten der Gewerkschaften. 56% sprechen sich für begrenzte Generalstreiks aus.

Neue Elemente in der Reformdebatte

Nicht unerheblich dürfte auch der Jahresbericht über Steuerschlupflöcher gewesen sein, den der Nationale Rechnungshof Mittwoch vergangener Woche, mitten in der Diskussion über die Rentenreform, veröffentlichte. 172 Milliarden Euro gehen dem französischen Staat 2010 wieder durch Steuervergünstigungen allein an Unternehmen verloren. Über die Hälfte dessen, so der Rechnungshof, hat keinerlei positive Auswirkung auf Löhne, Arbeitsplätze, Investitionen oder sonstiges. Der Regierung wird dringend eine Reform diesbezüglich angeraten. Allein 32 Milliarden gehen dem Fiskus an Sozialabgaben verloren. Dagegen erscheint das Rentendefizit – 2010 auf 9,2 Milliarden Euro geschätzt – vielen kaum mehr als das wirkliche Problem.

Vor diesem Hintergrund können viele Franzosen nicht verstehen, warum sie nun länger arbeiten müssen, damit auf der anderen Seite die Arbeitgeber einen Teil ihrer Sozialabgaben erlassen bekommen.

Und nicht nur das: ein wieder entdecktes und verbreitetes Interview zeigt Nicolas Sarkozy, wie er noch 2008 – nach der Präsidentschaftswahl – meinte: „Die Rente ist für mich kein Thema. Ich habe im Wahlkampf nicht darüber gesprochen, also haben wir dafür kein Mandat. So einfach ist das.“ und fügt kurz darauf an: „Aber es besteht auch gar kein Grund zur Eile, die Rente ist bis mindestens 2020 sicher finanziert.“ Auf die Frage, warum jetzt plötzlich Eile bestehe, wiegelt Sarkozy heute mit dem einfachen Verweis auf die Krise ab. Doch wenn das Defizit der Rentenkasse – auch nur zu Teilen – durch die Banken- und Finanzkrise verursacht wurde, überrascht schon, warum keine Beteiligung der Banken in der Reform zu finden ist, obwohl diese heute bereits wieder Rekordgewinne erzielen.

Immer mehr dämmert es dem Franzosen, dass er mit dieser Reform allein die Lasten tragen muss, die hauptsächlich durch Arbeitgeberentlastungen und Bankenkrise verursacht wurden. Der Preis ist nun eine Rentensenkung.

Denn selbst wenn man sich bereit erklärte, zwei Jahre länger zu arbeiten, stellt sich doch die Frage, woher die ganzen Arbeitsplätze kommen sollen, die für die geforderte Mehrarbeit notwendig sind. Frankreich hat heute knapp 10% Arbeitslosigkeit, besonders viel bei den Jungen und den Alten. Da liegt auf der Hand: es gibt kaum mehr Stellen zu vergeben. Für die zwei Drittel, die ab 55 bereits keine Chance mehr auf dem Arbeitsplatz haben, bedeutet das zwei Jahre Arbeitslosigkeit mehr vor dem Renteneintritt – plus Rentenkürzung obendrauf. Und wenn ein Drittel wirklich zwei Jahre länger arbeiten kann, dann fehlen Tausende Jobs für die Jugendlichen, die besonders in studierten Fachrichtungen auf die freien Plätze warten – und schon heute ihre erste Vollzeitfestanstellung mit 27 Jahren bekommen.

Plus 42 Arbeitsjahre für die Rente ohne Abschläge, und schon ist 67 für ganze Bevölkerungsgruppen in weiter Ferne. Kurzum: kein Finanzierungsproblem wird gelöst, nur die „Kosten“ von Rentenkasse in Sozialkasse verschoben, von Rente zu Arbeitslosigkeit, bei sinkendem Lebensstandard für Jung und Alt.

Angesichts dieser Erkenntnisse in der Bevölkerung hat die Regierung die Erklärung ihres Projektes aufgegeben. Anfang diesen Monats wurden noch kleinste Zugeständnisse gemacht und sofort in einseitigen Werbeannoncen in vielen großen Zeitungen ausgeschlachtet: weiterhin wird mit 60 in Rente gehen dürfen, wer bereits mit 14, 15 oder 16 Jahren angefangen hat zu arbeiten oder nach harter Arbeit einen gewissen Invaliditätsgrad vom Betriebsarzt attestiert bekommt (was sich jedoch durch das bekannte Kundenbewusstsein dieser Ärzte gegenüber den Unternehmen im Einzelfall als schwierig erweisen könnte). Wie dem auch sei, es hat kaum zu überzeugen vermocht.

Ansonsten bleibt die Regierung weiter auf ihrer Linie: die Reform muss her, und zwar in Form einer Rentenkürzung, keinesfalls einer Re-Finanzierung unter Einbeziehung von Unternehmen, Kapitaleinkünften und Banken.

Eine politische Richtungsentscheidung

Die Ideologischen Grundlagen dieser Politik, die Sozialsysteme um jeden Preis kürzen und die Wirtschaft „entlasten“ oder gar „befreien“ will, findet ihre theoretischen Grundlagen im Neoliberalismus des österreichischen Ökonom Friedrich von Hayek, der sich wiederum auf eine eigene Interpretation des Wirtschaftsliberalen Adam Smith beruft.

Es geht darum, das Egoismusprinzip zur Staatstheorie hinaufzuheben: „Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt.“ Für die Volkswirtschaft bedeutet das, dass der Markt seine maximale Leistungsfähigkeit entfalten und sich zu aller Wohl entwickeln kann, wenn alle Hürden, Beschränkungen und Zwangsabgaben aufgehoben sind. Soweit die Theorie.

In der Praxis zeigt sich jedoch, dass es die von Smith vorausgesetzte Chancengleichheit nicht gibt und vorhandene Machtstrukturen im freien Wettbewerb immer dazu führen, die „Schwächeren“ zu unterdrücken. Daher ist eine solche Wirtschaft der maximalen Konkurrenz selten in der Lage, das Wohl der Allgemeinheit zu fördern und wirkt unter der Zielsetzung der Überwindung des Mangels wenig effizient: kapitalistische Wirtschaften haben einen enormen Rohstoffverbrauch, eine hohe Verschwendungsrate und zyklische Wirtschaftskrisen, in denen ganze Branchen untergehen – und mit ihnen die von den Ökonomen gern übersehenen Einzelschicksale.

Das Problem ist eigentlich ganz einfach – und längst bekannt. Kein Wirtschaftsstudent kommt heute um den Satz herum: „Betriebswirtschaftlicher und volkswirtschafter Nutzen sind nicht identisch.“ Oder mit anderen Worten, was für ein einzelnes Unternehmen (oder ein Individuum) logisch sein kann, muss nicht – und kann oft gar nicht – als Dogma einer ganzen Wirtschaft funktionieren.

So kann es für einen Unternehmer durchaus logisch erscheinen, Ausgaben so weit zu senken und so viele Arbeiter zu entlassen, wie es für den Betrieb möglich ist – denn sein Ziel ist der persönliche Profit. Gesamtgesellschaftlich wird es aber schwierig, wenn jeder so verfährt. Deshalb kann für einen Staat auch die unbedingte Senkung der Staatsausgaben und Entlassung von Angestellten in die Arbeitslosigkeit nicht das Ziel sein – denn dem Staat geht es um Ausgleich und Regulierung, nicht um Profit.

Ähnliches gilt für Individuen: Schon kleine Beispiele zeigen das logischerweise aus einer solchen egoistischen Konkurrenzwirtschaft folgernde Chaos:

Wenn wir uns eine Person vorstellen, die sich fragt, wie sie morgens am schnellsten an den Arbeitsplatz kommen kann, dann liegt ihr individuell nahe, das Auto zu nehmen. Wenn jedoch alle so entscheiden, kommt es zu langen Staus, und letztlich brauchen alle länger. Das Problem: alle Auswärtigen „konkurrieren“ um den Platz auf dem Anfahrtsweg, wissen aber nicht, wie sich die anderen entscheiden werden. Es kommt nicht selten die denkbar ineffizienteste Lösung zustande.

Ein anderes Beispiel ist das des Fischers, der sich mit der Fischerei sein Leben verdient, das Fischgebiet aber mit anderen Konkurrenten teilen muss. Egoistisch liegt es nahe, dass er so viel abfischt, wie er kann, um sich den höchstmöglichen Ertrag zu sichern. Wenn jedoch alle so denken, sind die Fischbestände bald abgefischt – und noch dazu sinken die Fischpreise, es entsteht erneut die denkbar ineffizienteste Lösung. Dennoch wird der Durchschnittsfischer in der Konkurrenzsituation so viel herauszuholen versuchen, wie er kann.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, und sie wird etwa vom Oxford-Professor Derek Parfit so beschrieben: „Der Egoist lebt vom Bürgersinn der anderen. Er geht davon aus, dass die anderen nicht egoistisch sind und genauso handeln wie er. Wenn jeder immer das tut, was für ihn stets das Beste ist, kommt am Ende das schlechteste für alle heraus.“ Einige sind sogar so klar wie der Wirtschaftsprofessor Amartya Sen: „Der wirtschaftlich egoistische Mensch ist ein rationeller Idiot.

Und dennoch mag individuell egoistisches Verhalten durchaus nachvollziehbar sein. Als Staatsnorm kann es allerdings nicht herhalten. Dabei hätte es schon gereicht, den gedanklichen Vater des Wirtschaftsliberalismus bis zu Ende zu lesen. Denn sogar in Adam Smiths fünftem Buch des „Wohlstand der Nationen“ steht, dass eine kapitalistische Wirtschaft notwendigerweise verschwenderisch und ineffizient wird, wenn der Staat nicht dort reguliert, wo die „unsichtbare Hand des Marktes“ versagt. Als ein besonderes Beispiel führt er desweiteren an: Aktiengesellschaften.

Doch die europäischen Regierungen wollen davon nichts wissen. Dogmatisch stehen sie den Versicherungen und Aktienunternehmen zur Seite im Kampf gegen die letzte noch zu sprengende Regulierung – und im Abbau des Sozialstaats.

Die Wahl der Gesellschaft

Wir brauchen eine neue Diskussion über die Ziele unserer Gesellschaft und die Aufgaben unseres Staates. Wenn Obama sagt: „Wahrer Frieden ist nicht nur Freiheit von Angst, sondern Freiheit von Bedürfnissen.“ Und weiter: „Wir Menschen mögen sehr unterschiedlich sein. Aber wir streben im Leben alle dasselbe an: materielle Unabhängigkeit, […]“, so darf das zu denken geben. Materielle Absicherung, Gesundheit, Bildung, Mobilität – man kann sich sehr wohl auf gemeinsame Bedürfnisse aller Individuen festlegen. Man kann sehr wohl sagen, dass die Erfüllung dieser Bedürfnisse für alle Individuen erstes Ziel unseres Wirtschaftens sein sollte. Man könnte sie als Aufgaben des Staates definieren.

Das war lange Zeit – zumindest formell – Konsens. In der französischen Verfassung findet man folgenden Artikel: „Jedes Vermögen und jedes Unternehmen, dessen Betrieb den Charakter eines nationalen öffentlichen Dienstes oder eines faktischen Monopols trägt oder erhält, muss in Gemeinschaftseigentum überführt werden.“ (Artikel 8 der Préambule von 1946).

Auch in Deutschland vertrat man lange ähnliche Ideen. Folgender Text: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. (…) Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“, verbunden mit der Forderung nach der Verstaatlichung der großen Schlüsselindustrien, entstammt einem Programm der CDU der jungen Bundesrepublik.

Wer sich jedoch heute dem Unisono der Privatisierung, Individualisierung und des Profitstrebens entgegenstellt, wird allzu schnell an den „extremen“ linken Rand geschoben.

Dabei scheint es viel mehr, dass diese Parteien eine extreme Position einnehmen, die seit knapp zwanzig Jahren ununterbrochen mehr Profit für Aktionäre und Finanzinvestoren predigen und gleichzeitig steuerlich die arbeitende Mittelschicht schröpfen. Die die „freie“ Wirtschaft mit dem Recht des Stärkeren fordern und die Solidarität mit Alten und Schwachen aufgeben. Und auch noch die Arroganz haben, solch eine Politik als „alternativlos“ zu bezeichnen.

Es geht um uns

Um vor der erkalteten Gesellschaft nicht zu resignieren, geben sich viele Franzosen historisch. Die neuerliche Extremisierung des Kapitalismus lässt sie an die Geschichte des historischen Gegenmodells denken: Mit dem Bewusstsein der Unbesiegbarkeit dank der marxschen Bibel ging auch die Idee des Kommunismus bereits durch eine dunkle Phase, von der sich die Menschen befreien mussten. Einige sehen dies als notwendigen Schritt auf dem Weg zu einem erneuerten, demokratischen Reformsozialismus.

In diesem Sinne könnte man darauf hoffen, dass auch der Kapitalismus nach seinem Ausflug in den immer brutaleren Neoliberalismus, an dessen Anfang wir erst stehen, revidiert wird und eine erneuerte, wirtschaftlich gerechtere Nachfolge bekommt.

Das einzige Problem: Der Kapitalismus hat seinen GAU bereits erlebt, in den dreißiger Jahren. Die Lehren scheinen nun aber Schritt für Schritt vergessen.

Und schließlich: Die Franzosen wollen nicht ihr Leben damit verbringen, zuzusehen, wie die gesellschaftlichen Spannungen und die Unterschiede zwischen arm und reich immer weiter zuneh- men, das Leben für immer mehr Menschen immer schwieriger wird. Es geht schließlich um ihr Leben.

Und so fordern sie die längst überfällige Diskussion heute, morgen, auf der Straße. Sarkozy meint weiterhin, es reiche, seine politischen Entscheidungen als „einzige Alternative“ darzustellen und den Diskurs auszuschlagen. Er sollte besser auf seine Mitbürger hören.

Denn die Protestbewegung, die mit der Rente angefangen hat, aber mittlerweile das gesamte System anklagt, geht in die nächste Runde. 800 Gymnasien sind blockiert, die ersten Unis ebenso. Die Gewerkschaften erwägen einen ersten 24-stündigen Generalstreik in allen Sektoren, öffentlich wie privat. Die Demonstrationen sind mittlerweile täglich.

Und vielleicht ist es erst der Anfang. Wie sagt der Franzose diese Tage so oft:

Dans ‘grève’, il y a ‘rêve’. (In ‘Streik’steckt ‘Traum’.)


Weitere Artikel von Stefan Wandrey zu den französischen Rentenprotesten finden Sie auf der Themenseite Internationales. 

Kategorien: Internationales, Soziales

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